Ein Spiegel mit 39 Metern Durchmesser - Astronomen planen das größte optische Teleskop der Welt

Anfang des 17. Jahrhunderts richtete Galileo Galilei das neu erfunden Fernrohr an den Himmel – und revolutionierte mit zahlreichen Entdeckungen die Himmelskunde: Er entdeckte Berge auf dem Mond, Flecken auf der Sonne, Monde des Planeten Jupiter und vieles mehr. Seither lebt die Erforschung des Weltalls von der Weiterentwicklung der Teleskope – jede neue, größere Fernrohr-Generation führte zu neuen Umwälzungen.

In den 1990er Jahren entstanden überall auf der Welt neue Groß-Teleskope mit sechs bis zehn Meter großen Hauptspiegeln. Und seit 1993 liefert das Weltraumteleskop Hubble scharfe Bilder aus der Erdumlaufbahn. Die astronomischen Revolutionen ließen nicht lange auf sich warten. 1995 spürten die Schweizer Himmelsforscher Michel Mayor und Didier Queloz erstmals einen Planeten auf, der einen sonnenähnlichen Stern umkreist – und starteten damit eine weltweite Jagd auf „Exoplaneten“. Inzwischen sind über 850 Planeten bei anderen Sternen bekannt und nahezu täglich werden es mehr.

Eine andere, völlig unerwartete Entdeckung rüttelte gar an den Grundpfeilern des kosmologischen Weltbilds. Gleich zwei Forschungsgruppen meldeten 1998 und 1999, dass die Expansion des Weltalls sich nicht – wie zuvor erwartet – verlangsamt, sondern im Gegenteil sogar beschleunigt. Eine geheimnisvolle „Dunkle Energie“ ist hier am Werk, die 74 Prozent der Gesamtmenge an Masse und Energie im Kosmos ausmacht.

Neue Erkenntnisse werfen neue Fragen auf – und wecken neue Begehrlichkeiten. Inzwischen geht es den Astronomen nicht mehr nur um die Entdeckung neuer Planeten, sondern um die Beobachtung ihrer Atmosphären und ihres Klimas. Das große Ziel: Die Beobachtung eines erdähnlichen Planeten in der lebensfreundlichen Zone eines Sterns, der unserer Sonne ähnelt. Eine Atmosphäre mit hohem Sauerstoffgehalt wäre ein Indiz für die Existenz von Leben auf der fernen Welt – wir wären nicht allein im All.

Die Dunkle Energie ist gegenwärtig das wohl größte Rätsel der physikalischen Forschung. Die mysteriöse Substanz dominiert den Kosmos – aber ihre physikalische Beschaffenheit ist völlig unbekannt. Handelt es sich bei ihr um eine fundamentale Eigenschaft des Raumes, eine Art innerer Spannung? Oder ist sie ein bislang unbekanntes Kraftfeld, das vielleicht sogar räumlich und zeitlich veränderlich ist? Von der Antwort auf diese Frage hängt unter anderem das künftige Schicksal des Universums ab: Wenn die Expansion des Weltalls sich unaufhaltsam beschleunigt, könnte sie in ferner Zukunft alle Strukturen im Kosmos zerreißen.

Selbst mit den derzeit größten Teleskopen auf der Welt lassen sich diese neuen Herausforderungen nicht bewältigen. Deshalb träumen die Astronomen seit Anfang des 21. Jahrhunderts von der nächsten Fernrohr-Generation. Die Verwirklichung dieses Traums ist in greifbare Nähe gerückt: Die Europäische Südsternwarte ESO plant den Bau eines Teleskops mit einem Spiegeldurchmesser von 39 Metern. Mit Spiegelgrößen von acht bis zehn Metern wirken die derzeit größten Fernrohre dagegen wie Zwerge.

Je größer der Spiegel – oder allgemein das Objektiv -, desto mehr Licht sammelt ein Fernrohr. Und je mehr Licht ein Fernrohr sammelt, desto schwächere Himmelskörper können die Astronomen beobachten: schwach glimmende Planeten neben gleißenden Sternen, explodierende Sterne in weit entfernten Galaxien, die ersten Sternsysteme, die sich nach dem Urknall im Kosmos gebildet haben. Ein 39 Meter durchmessender Spiegel empfängt 23-mal mehr Licht als der 8-Meter-Spiegel eines der vier „Very Large Telescopes“ der ESO.

Ursprünglich hatte die ESO noch gewaltigere Pläne: Ein „Overwhelmingly Large Telescope“, kurz OWL, sollte mit einem 100 Meter großen Spiegel auf lange Zeit alles in den Schatten stellen. Doch erste Designstudien zeigten, dass das OWL zu ambitioniert war – zu teuer und zu komplex bei den derzeitigen technischen Möglichkeiten. Ebenso verworfen wurde Euro-50, ein Entwurf mit einem 50-MeterSpiegel. Im Dezember 2006 fiel die Wahl auf ein Fernrohr der 40-Meter-Klasse, das „European Extremely Large Telescope“, kurz E-ELT.

Ein Spiegel dieser Größe lässt sich nicht mehr in einem Stück produzieren. Zum einen treten bei der Abkühlung eines so großen Glasblocks starke innere Spannungen auf, die zu Rissen führen. Zum anderen wäre ein monolithischer Spiegel zu dick – das Gesamtgewicht wäre so gewaltig, dass eine mit hoher Präzision bewegliche Lagerung nicht mehr möglich wäre.

Wie bei den meisten heutigen Großteleskopen besteht der Hauptspiegel des E-ELT deshalb aus vielen kleinen Spiegelsegmenten. Die 798 sechseckigen Teilspiegel sind jeweils 1,4 Meter groß, aber nur 5 Zentimeter dick. Ein weiterer Vorteil dieses Designs: Aufgrund der großen Zahl baugleicher Spiegel verringern sich die Produktionskosten erheblich. Jeweils drei Motoren pro Segment sorgen dafür, dass alle zusammen stets eine perfekte Spiegelfläche bilden. Die Anforderungen an die Motoren sind gewaltig: Bei Stellwegen von bis zu 15 Millimetern müssen die Positionen auf weniger als zwei Nanometer genau eingestellt werden – das ist an der Grenze des technisch heute Machbaren. Ein Nanometer ist der Millionste Teil eines Millimeters.

Ein großes Problem bei astronomischen Beobachtungen vom Erdboden aus ist die Unruhe der Luft. Warme und kalte Luftmassen bewegen sich gegeneinander und sorgen so dafür, dass sich entlang des Lichtwegs der Brechungsindex der Luft ständig ändert. Das Resultat ist das bekannte Blinken der Sterne – im Fernrohr sichtbar als waberndes, verschmiertes Bild. Die Luftunruhe verschmiert alle Einzelheiten über eine Fläche, die viel größer ist als das theoretische Auflösungsvermögen großer Teleskope.

Um das Problem zu verringern, versuchen die Astronomen, einen möglichst großen Teil der Atmosphäre unter sich zu lassen. Optimal ist natürlich eine Stationierung im Weltall wie beim Hubble Space Telescope. Doch das ist teuer und erschwert die Wartung des Teleskops. Deshalb stehen Großteleskope auf hohen Bergen in Regionen mit einer möglichst stabilen Wetterlage, die eine maximale Anzahl klarer Nächte pro Jahr bieten.

Ihr erstes großes Observatorium errichtete die ESO auf dem 2400 Meter hohen La Silla am Rande der Atacama-Wüste in Chile. Die Atacama-Wüste ist eine der trockensten Gegenden der Erde – das garantiert eine extrem geringe Luftfeuchtigkeit. Neben klarer Sicht ermöglicht dies den Astronomen auch, mit ihren Instrumenten in den Infrarot-Bereich vorzustoßen. Wasserdampf absorbiert Wärmestrahlung und behindert deshalb Beobachtungen in diesem Bereich.

Für das um die Jahrtausendwende errichtete Very Large Telescope mit seinen vier 8-Meter-Spiegeln plus vier Hilfsfernrohren war auf dem La Silla kein Platz mehr. Das zweite Observatorium der ESA entstand deshalb auf dem 2635 Meter hohen Cerro Paranal, ebenfalls in der Atacama-Wüste gelegen. Und für das gewaltige E-ELT mussten die Astronomen erneut auf die Suche nach einem geeigneten Standort gehen.

Neben weiteren Bergen in der Atacama-Wüste zog die ESO auch hochgelegene Orte auf La Palma, in Marokko, im Himalaya und sogar auf Grönland oder in der Antarktis in Betracht. Doch schließlich gab die in Chile bereits vorhandene Infrastruktur den Ausschlag. Im April 2010 gab das Konzil der ESO bekannt, dass das neue Großteleskop auf dem 3060 Meter hohen Cerro Amazones errichtet wird, der gerade einmal 20 Kilometer vom Paranal entfernt liegt. Dadurch lässt sich ein großer Teil der für die Paranal-Sternwarte gebauten Einrichtungen und Straßen auch für das neue Observatorium nutzen.

Der Bau eines Fernrohrs auf einem hohen Berg mit idealen Wetterverhältnissen reduziert zwar die Luftunruhe, schaltet sie aber nicht völlig aus. Doch moderne Technik macht es möglich, die Störungen fast vollständig auszugleichen und so nahe an das theoretische Auflösungsvermögen heranzukommen. Im Strahlengang des E-ELT liegt ein weiterer dünner Spiegel, den 6000 kleine Motoren verformen - tausend Mal pro Sekunde und zwar gerade so, dass dadurch der Einfluss der Luftunruhe auf die einfallende Strahlung fast völlig ausgeglichen wird. Zur Kalibrierung dient dabei ein künstlicher Stern, der mithilfe eines Laserstrahls in der Atmosphäre erzeugt wird. Die Bilder des E-ELT werden so etwa 15-mal schärfer sein als die des Hubble-Teleskops.

Voraussichtlich 2014 beginnt die ESO mit dem Bau des Fernrohrgiganten, derzeit laufen erste Versuche mit optischen Prototypen. Am 13. Oktober 2011 übertrug die Republik Chile der Europäischen Südsternwarte 189 Quadratkilometer Land um den Cerro Amazones für den Bau des neuen Observatoriums. Weitere 362 Quadratkilometer um den Standort wurden für 50 Jahre zum Schutzgebiet erklärt, um Beeinträchtigungen der astronomischen Forschungen durch Lichtverschmutzung und Bergbauarbeiten zu verhindern. Die ESO sicherte den chilenischen Astronomen im Gegenzug – wie schon bei den beiden anderen Observatorien – zehn Prozent der Beobachtungzeit am E-ELT zu. Damit haben die chilenischen Forscher die Möglichkeit, etwa ab 2022 gemeinsam mit ihren Kollegen erneut das astronomische Weltbild zu revolutionieren. Neben der Untersuchung erdähnlicher Planeten und der beschleunigten Expansion wollen die Astronomen mit dem E-ELT erstmals einen Blick in das Dunkle Zeitalter des Kosmos werfen.

380.000 Jahre nach dem Urknall war das Universum so weit abgekühlt, dass sich aus Elektronen und Protonen elektrisch neutrale Wasserstoff-Atome bilden konnten. Aber erst 400 Millionen Jahre nach dem Urknall sind die ersten Sterne und Galaxien entstanden – was ist in der Zeit dazwischen passiert? Und welche Rolle spielen die gewaltigen Schwarzen Löcher, millionen- oder gar milliardenfach schwerer als unsere Sonne, in der kosmischen Entwicklung? Wie sind sie entstanden und gewachsen?

Und noch eine weitere, ganz fundamentale Frage soll das E-ELT beantworten: Sind die Naturgesetze, so wie wir sie kennen, räumlich und zeitlich konstant? Veränderungen von Naturkonstanten zeigen sich als winzige Verschiebungen der Wellenlängen des Lichts, das ferne Objekte aussenden. Mit seiner gewaltigen lichtsammelnden Kraft könnte das neue europäische Himmelsauge erstmals solche Variationen nachweisen – und damit die Tür aufstoßen zu einer neuen Physik jenseits von Relativitätstheorie und Quantenmechanik.

Weitere Riesen

Die Konkurrenz schläft nicht: Auch US-amerikanische Astronomen planen den Bau neuer Großteleskope. Am weitesten vorangeschritten sind die Planungen für das Thirty Meter Telescope TMT und das Giant Magellan Telescope GMT. Ähnlich wie das E-ELT besteht das TMT aus 492 hexagonalen, 1,4 Meter großen Spiegeln, die zusammen aber nur einen Objektivdurchmesser von 30 Metern ergeben. Das TMT soll auf Hawaii errichtet werden und bereits 2018 in Betrieb gehen. Beim GMT setzt sich das Objektiv aus sieben, jeweils 8,4 Meter großen Einzelspiegeln zusammen. Diese Konfiguration sammelt so viel Licht wie ein 21,4 Meter großer Hauptspiegel. Als Standort für das GMT ist der Las Campanas in Chile vorgesehen, der Bau soll bis zum Ende dieses Jahrzehnts erfolgen.

Und auch im Weltall soll es ein neues Großteleskop geben: Die Nasa plant gemeinsam mit der Europäischen und der Kanadischen Weltraumbehörde das James Webb Space Telescope. Das JWST ist mit seinem 6,5 Meter großen Spiegel größer als Hubble, beobachtet aber nicht im sichtbaren, sondern im infraroten Licht. Dadurch eignet sich das Instrument besser als Hubble für die Untersuchung der ersten Galaxien und der Entstehung von Sternen und Planeten.

Bildquelle: ESO